Notiz über das Reisen
Der Reisende schaut am Lagerfeuer in das Gesicht eines seiner
abenteuerlichen Begleiter und fühlt sich an einen alten Bekannten
aus der Heimat erinnert.
Das ist die Ausgangssituation meiner
Lieblings-Reisereportage: "Tigerjagd in Afghanistan" von Egon Erwin
Kisch.
Erinnert fühlt sich Kisch an einen schüchternen Konkurrenten
um die Stelle als Banklehrling, um die er sich viele Jahre zuvor
beworben hatte. Der Konkurrent machte damals das Rennen, und Kisch,
inzwischen ein berühmter Reporter und Weltreisender, fragt sich nun
am Lagerfeuer, was dieser Mensch, inzwischen wahrscheinlich ein
leitender, aber biederer Bankangestellter, gerade wohl treiben mag.
Die Antwort des Reporters: Wahrscheinlich träumt er davon, einmal
ein richtiges Abenteuer zu erleben, zum Beispiel eine Tigerjagd in
Afghanistan.
Zu keiner Zeit bin ich mehr gereist als in meiner Kindheit -
durch Nord- und Südamerika, durch den Balkan und immer wieder durch
die Wüste. Die Bücher Karl Mays weckten das Fernweh in mir. Die
Erkenntnis, dass die Geschichten alle erfunden waren, traf mich
nicht - schließlich war doch klar gewesen, dass kein Einzelner all
diese Abenteuer selbst erlebt haben konnte, und dann gab es ja noch
die Reiseberichte von Sven Hedin und anderen Abenteurern, die
wirklich an den Orten gewesen sind, über die sie berichteten.
Eher schon fürchtete ich, selbst nie so reisen zu können, wie
es die Abenteurer aus früheren Zeiten vermochten, schlicht und
ergreifend deshalb, weil es in unserer Zeit keine abenteuerlichen
Reisen mehr gibt.
Meine "erste große Reise" - die, ohne Eltern - sollte mich
mit einem Freund an die spanische Südküste führen. Wir hatten ein
Interrail-Ticket der Deutschen Bundesbahn, das damals, Anfang der
70'er Jahre, knapp über 200 Mark kostete, und das uns einen Monat
lang freie Fahrt auf allen europäischen Eisenbahnen gewährte, und
dazu im Kopf das Buch von James A. Michener "Die Kinder von
Torremolinos" über unbeschwertes Hippie-Leben unter südlicher Sonne.
Die Hotelburgen von Malaga belehrten uns innerhalb einer
halben Stunde: Wir stiegen wieder in den Zug, fuhren weiter nach
Algeciras, setzen über nach Ceuta - und passierten am nächsten Tag
die Grenze in eine für mich damals unbekannte Welt: Aus dem
geplanten einmonatigen Spanien-Urlaub wurde eine Zwei-Monate-Tour
durch Marokko.
Ferien in den Urlauber-Ghettos und Strand-Clubs wurden mir so
zum Gräuel - bis ich denn später auch deren Bequemlichkeit
entdeckte. Reisen abseits der ausgefahrenen Wege, entdecken, was
andere vielleicht noch nicht entdeckt haben und denen dann davon zu
berichten, Ermunterung zum Erlebnis bieten - das ist für mich der
Sinn einer Reise, auch dann, wenn es nicht unbedingt so
abenteuerlich zugeht wie in den großen Entdeckergeschichten.
Mit offenen Augen geht das Entdecken übrigens sogar an den
Orten, an denen sich die Besucherströme auf die Füße treten. Es ist
dort allerdings ungleich schwerer. Wichtig ist schließlich nicht,
auf das absolut Neue zu stoßen:
Wichtig ist, für sich selbst auf das Neue zu stoßen, egal,
wie viele andere es schon kennen. Schließlich sieht auch das
Bekannte jeder mit seinen eigenen Augen.
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